Weihnachtliches Genua

20.12.2019 Da bin ich also. In Genua. Im Hafen. Allein. Auf dem Boot, welches wir hierher gebracht haben. Eigentlich sollte ich auf einem anderen Boot Richtung Bahamas sein.

Ich spaziere durch die Straßen. Es regnet. Meine Schuhe sind nass. Eigentlich schon seit dem ersten Tag auf dem Boot. Ich setzt mich ins Trockene und genieße einen Cappuccino.

Eigentlich habe ich die Möglichkeit bis Mitte Januar durch Städte zu reisen bis Mallorca oder Malaga. Dort kann ich dann auf das Boot Richtung Bahamas aufspringen. Klingt eigentlich ganz gut.

Weihnachten steht vor der Tür. Eigentlich schreibe ich so einem Datum, wie auch Neujahr keine große Bedeutung zu. Das besinnliche dieser Zeit ist in unserer Gesellschaft verloren gegangen, auch dass es eigentlich das “Fest der Liebe” ist.

Das Wort “eigentlich” stört mich. Entweder ist es so, oder nicht. Als ob man sich vor der Entscheidung drücken möchte, eine klare Aussage zu machen.

21.12.2019 Ich bekomme eine Nachricht vom Skipper, dass ich am 4.Januar mit ihm starten soll. Da fällt die Idee mit der Städte-Tour, um anschließend auf’s Boot zu springen, also ins Wasser. Schade eigentlich. Ich hatte mich auf Weihnachten in Marseille eingestellt.

Die letzten zwei Jahre habe ich für Freundinnen und Freunde eine Weihnachtfeier ausgerichtet. Dieses Jahr weiß ich noch nicht einmal wo ich Weihnachten verbringe, geschweige denn mit wem. Ist ja eigentlich auch egal. So. Jetzt reicht’s. Dieses ständige Relativieren. Das Wort “eigentlich” ist ab jetzt gestrichen.

22.12.2019 Ich sitze im Zug nach Lavagna. Nun weiß ich, wo ich die Festtage verbringe. Auf einer Finca, mitten in den Bergen Italiens. Die nächstgelegene Bushaltestelle ist eine Stunde Fußmarsch entfernt. Ruhe und Natur, das ist sicher. Nur weiß ich noch nicht, wer mich alles dort erwartet.

Ein weiterer Tag neigt sich dem Ende zu.

05.01.2020 Morgens. Ich bin im Badezimmer der Finca und bürste mir die Haare. Das 3-jährige, brasilianische Mädchen kommt herein: „Você vai embora?“. Moment mal. Das kann sie doch gar nicht wissen. Habe ich doch die Entscheidung “Abzureisen” gestern alleine vor dem Schlafen gefällt. Ich schaue in die großen Augen des kleinen Mädchens und nicke. Ihre Augen werden noch größer und mit Bestimmtheit sagt sie mir, dass ich bleiben soll, da ich doch ihre Freundin(amiga) bin.

Amiga. So nennt sie mich von Anfang an. Meinen Namen hat sie nur ein oder zwei Mal gesagt, ansonsten: Amiga. Immer, wenn sie etwas ißt, teilt sie es mit mir. Wenn ihre Mutter mit mir redet und sie nicht genug Aufmerksamkeit von mir bekommt, verbietet sie ihrer Mutter den Mund mit den Worten: „É minha amiga.“ (Das ist meine Freundin).

„Sim, sou sua amiga“ (Ja, ich bin deine Freundin), sage ich ihr, immer noch im Badezimmer stehend, den Tränen nahe. Sie merkt, dass ich entschlossen bin heute abzureisen, also will sie mit- ich bin doch ihre Freundin. Mir fehlen die Worte. Das ist herzergreifend. Das Mädchen und ich gehen in die Küche. Ihre Mutter kommt rein. Wir sind im gleichen Alter. Wir haben uns all die Tage auf portugiesisch oder englisch unterhalten. Jetzt aber komme ich nicht zu Wort, weil die Kleine schneller ist: „Amiga vai embora!“. Ja. Ich gehe. Obwohl ich noch bleiben kann. Obwohl wir uns so gut angefreundet haben. Obwohl ich nicht weiß wohin. Die Mutter meiner kleinen Freundin nimmt mich in die Arme.

Auch wir sind Freundinnen. Ganz besonders gute sogar. Vom ersten Augenblick an. Als ich in Lavagna vom Bahnhof abgeholt wurde, war es so, als ob ich eine Freundin, die ich schon seit Ewigkeiten kenne, wiedersehe. Zwei Wochen haben wir nun miteinander verbracht. In den Bergen. Gemüse ernten. Spaziergänge. Backen. Die Sonne genießen. Aufräumen. Putzen. Gäste empfangen. Singen. Kochen. Feuer machen. Mit den Kindern spielen. In der Hängematte schaukeln. Ausgiebig frühstücken, mit wunderbar, wertvollen Gesprächen. Wir lachen viel zusammen und wir teilen unsere Lebenseinstellungen. Es ist eine Freundschaft voller Respekt und gegenseitiger Unterstützung, voller Vertrauen und Humor. Sie hat mir gezeigt, was es wirklich heißt, mit liebevollen Blicken die Welt zu betrachten. So betrachte ich die Verbindungen, die ich im Leben habe und denke dabei an meine Freundschaften. Die Menschen, die mir am Herzen liegen, sind fern, jedoch so nah, wie nie zuvor. All die Freundinnen und Freunde, die ich scheinbar zurück gelassen habe, sind stets an meiner Seite. Und es kommen neue Freundschaften hinzu. Auch wenn ich zurzeit eine Reisende bin. Freundschaft kennt weder Zeit noch Raum.

Wir halten uns fest in den Armen. „Sim, eu vou embora“, sage ich. Vermutlich nur, um es mir selbst klarzumachen. Es ist an der Zeit woanders hinzugehen. Noch habe ich keine Informationen vom Skipper, wann wir in See stechen können. Doch mein reisendes Herz möchte weiter. Ich traue mich fast gar nicht die Umarmung zu lösen, weil mein Gesicht mittlerweile total verheult ist. Zum Glück sind wir unter Freundinnen und wie soll es da anders sein: ihr Gesicht ist mindestens genauso verheult. Wenn ich darüber nachdenke, könnte ich doch eigentlich noch bleiben. Eigentlich.

Stets lecker. Regional. Saisonal.
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Deutsche Fassung Die ReiseLeave a Comment on Freunde, nah und fern

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