08.November 2020. Polen. Oberschlesien. In der Nähe von Kattowitz. Ich schaue aus dem Fenster. Es ist stockdunkel. Seltsam. Hier hat die Nacht eine andere Farbe als woanders. Dieses tiefe Schwarz. Speziell. Ich würde darauf tippen, dass wir nun Mitternacht haben. Doch da die Sonne sich schon um vier Uhr langsam vom Firmament verabschiedet, kann ich da auch echt danaben liegen und blicke auf die Uhr. Tatsächlich: es ist sieben Uhr abends.
Die Fußgängerzone.
Die finstere Nacht lädt mich auf einen Spaziergang ein. Kälte und Nebelhauch hängt über der Stadt. Duftnoten von Kohle und verbranntem Holz und manchmal auch von verschmolzenem Etwas schweben in der Luft.
Die Straße führt zum Marktplatz. Hier und da kommen Leute entgegen. Dunkel gekleidet. Mit dunklen Masken. Maskenpflicht, sobald man die eigene Wohnung verlässt. Der Marktplatz lässt das Rathaus und die Kirche erstrahlen. Ein schöner Kontrast zur ganzen Dunkelheit.
Nach ein paar Straßenzügen habe ich das Ziel des heutigen Spaziergangs erreicht: ein Friedhof. Das mag nun ungewöhnlich klingen, doch tatsächlich habe ich mich mit Kerze und Feuerzeug auf den Weg dorthin gemacht. Zu dem Platz, an dem meine Ahnen begraben sind.
Der Tag der Allerheiligen wird in Polen besonders geehrt. Mit Blumen und Kerzen werden die Gräber geschmückt und im Laufe des Tages entsteht daraus ein buntes Meer, das nachts leuchtet durch all die Kerzenflammen. Am 01.11. wird aus dem stillen Friedhof ein Ort der Begegnung, der Gespräche und des Austausches. Doch das blieb dieses Jahr aus. Auch hier werden Maßnahmen ergriffen, um den Virus Einhalt zu gebieten. Der Friedhof war verriegelt.
Ich gehe zu einem großen Holzkreuz. Dort werden Lichter gezündet, um jenen zu gedenken, die verstorben sind. Ansonsten ist dort eine immense Fläche mit unzähligen Kerzen bestückt. Heute sind es in etwa 83. Oh, Moment. In diesem Augenblick kommt eine Frau und stellt eine Kerze dazu. 84.
Ich spüre die Wärme, die von diesen Kerzen ausgeht. Und von den Menschen, die um dieser Abendstunde den Friedhof aufsuchen. Mit viel Bedacht und Hingabe werden die Gräber gepflegt. Schmuck und Blumen niedergelegt. Kerzen gezündet.
Und sehr bedacht bin ich auf den Spuren der Ahnen. Was haben sie uns hinterlassen?
Unsere Welt ist momentan ein Trümmerhaufen. Wo wir auch hinschauen, ist etwas eingestürzt, oder es bröckelt. Jeder ist betroffen. Manche mehr. Manche weniger. Niemand kann mehr wegschauen.
Nur ein Bruchteil, der sonst so vielen Kerzen.
Es ist an der Zeit etwas richtig zu stellen. Die Weichen für etwas Neues, denn das Alte hat keinen Bestand mehr.
Es ist an der Zeit, etwas Gutes zu tun. Etwas Gutes für die Welt. Füreinander.
Es ist an der Zeit gewesen den Ort der Ahnen aufzusuchen. Nicht unbedingt den Friedhof. Sondern das Haus, indem sie einst lebten. Als ob mit ihnen auch das Haus gehen sollte. Verlassene Wohnungen, die eine dringende rundum Erneuerung bedürfen, damit wieder Leben einkehrt.
Doch erstmal heißt es Altes zu beseitigen. Die Trümmerhaufen und das, was bröckelt zum Einsturz bringen.
Ich kann es kaum erwarten, euch das ”Nachher-Bild“ von diesem Raum zu zeigen.
Eines der vielen Zimmer, die wir renovieren.
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Deutsche Fassung Die ReiseLeave a Comment on Auf den Spuren der Zeit

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