Nach Tagen des Wartens auf geeignetes Wetter, um in See zu stechen, ist es endlich soweit.
Am 15.12.2019 gehen wir, der Skipper und ich, mit unserem Sack und Pack an Bord. Die tunesischen Beamten kommen auf das Boot, um uns den Ausreisestempel zu geben. Von jetzt an bleibt der afrikanische Kontinent unseren Füßen verwehrt.
Die Leinen werden gelöst. Leider keine Segel gesetzt, denn der Auftrag lautet, die Überfahrt mit dem Motor zu machen. Der Katamaran soll so frisch wie nur möglich in Italien ankommen. Somit sind die eingerollten Segel gut verpackt auf dem Deck befestigt. Ein zweiter Katamaran, auch mit zwei Personen an Bord, setzt unter den selben Bedingungen gleichzeitig mit uns über.
Wir schätzen, dass wir in vier Tagen in Genua ankommen. Das bedeutet, Tag und Nacht vom Wasser umgeben sein. Das bedeutet, ein unregelmäßiger Schlafrhythmus, damit immer einer von uns beiden Wache schiebt. Das bedeutet, ein ständiges Schaukeln, mal mehr, mal weniger.
Was ich noch nicht weiß ist, was es für mich bedeutet.

– Am Horizont kreuzt ein Container-Schiff –
Wasser. Soweit das Auge reicht. Egal in welche Himmelsrichtung ich schaue: Wasser. Ich beobachte das Meer. Der Skipper schließt die Augen. Ich habe die Verantwortung. Der Skipper hat sich Ruhe verdient. Ich wunder mich, daß er so lange wach gewesen ist. Nun schläft der Skipper und ich wunder mich weiter. Ich wunder mich über das Meer. Diese Kraft, die darin steckt. Diese unendliche Weite. Diese Tiefe. Diese Schönheit. Diese Geheimnisse, die es birgt. Diese Vielfältigkeit. Und ständig: Alles neu.
Ich wunder mich über die Seewege. Über den Verkehr, der hier herrscht. Ein Frachtschiff nach dem anderen. Und Kreuzfahrtschiffe, so groß wie Hotelanlagen. Kleine, marode Fischerboote, die uns mit Handzeichen und Geschrei auf ihre Netze aufmerksam machen. Das war zwar schon einige Stunden her, doch wundern tut’s mich weiterhin, weil: Alles neu.
Ich wunder mich noch immer, dass ich nun mitten auf dem Meer bin. Ich. Raus aus dem Großstadt-Alltag auf ein Boot zu zweit. Vom Trubel in die Stille (die Motorgeräusche sind mittlerweile so integriert, dass ich sie schon gar nicht mehr wahrnehme). Fernab von allem was mir am Herzen liegt. Abgeschnitten vom Rest der Welt. Zwar vertraut mit dem Element Wasser, doch ungewohnt. Irgendwie: Alles neu.
Ich wunder mich, welche Gedanken in mir aufkommen. Aus längst vergangener Zeit. Dachte, die sind schon seit Ewigkeiten begraben. Doch das Wasser ist stärker als ich und spült sie an die Oberfläche. Und ich fange an, mit diesen Gedanken zu spielen. So lange bis ich sie endgültig loslasse und sie somit im Meer untergehen und verschwinden. Gedanken, die mir nichts nützen, nimmt das Meer gnadenlos mit. Neue Räume öffnen sich, die mit klaren, sauberen Wasser gefüllt werden. Ich fühle mich frisch. Als ob eine Politur meines Innenlebens stattfindet und dann ein Schild aufgehängt wird mit der Aufschrift: Alles neu.
Neu ist es auch für mich, nach so langer Zeit auf dem Wasser, im Ziehlhafen einzulaufen. Mitten in der Nacht. Hafenbeleuchtung. Ein geschützter Raum. Ohne Wellen. Voller Demut und Dankbarkeit nehme ich die Geräusche, Gerüche und optischen Reize wahr. Das Gefühl, was in mir aufkommt ist unbeschreiblich. Tränen kullern über meine Wangen. Wortlos genieße ich diesen Augenblick.
Und schon geht es weiter. Uns wird im Hafen ein Anlegeplatz zugeteilt. Während der Skipper am Steuer ist, weist er mich ein, was ich zu tun habe. Alles klappt wie am Schnürchen. Das Boot ist sicher im Hafen und wir sind glücklich und müde.
Es ist also vollbracht. Ich bekomme einen imaginären Stempel, der meine Seetauglichkeit bestätigt. Ich bin froh darüber, dass ich diesen Weg genommen habe, bevor es nach Lateinamerika geht. Die Mittelmeer-Überfahrt war ein Vorgeschmack auf die Atlantik-Überquerung. Diese kann nun kommen. Mit einem Katamaran. Zu viert. Diesmal mit Segel. Von Tunesien in die Bahamas. In ein paar Tagen geht es los. So dachten wir jedenfalls. Doch das Leben hat es sich anders gedacht.

– Der Hafen von Genua, Italien –

